Eulenspiegel Nr.3 im Sommersemester 95
Der Lauscher an der Wand...
(oder: Eine Schleuderfahrt auf der Datenautobahn)
Jérôme Waibel
Revisionsdatum: Juni1995
Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt ?
Multimedia - Information Retrieval - Datenautobahn - diese und andere nicht minder schnittig klingende Begriffe (oder sollte man nicht vielmehr sagen "Worthülsen"?) liest oder hört man in letzter Zeit immer öfter. Keine Zeitung meint auf Artikel zu diesem Thema verzichten zu können, keine Woche vergeht, ohne daß nicht irgendwo ein Kongreß zu diesem Thema stattfände, auf dem Experten und andere Leute, die sich für kompetent und wichtig halten (lies: Politiker), unsere schöne neue Zukunft ausmalen.Was ist das ?
Doch was ist das eigentlich - Multimedia ? Schon vor 30 Jahren bezeichnete man Diashows mit Musikbegleitung als multimedial, eine Vorlesung definiert Multimedia als "rechnergestützte integrierte Handhabung mehrere Medien", Escom schlicht als PC mit Soundkarte. Offenbar weiß niemand genau, was das sein soll, wie es bei Worthülsen eben so üblich ist, einig scheint man sich nur zu sein, daß es mit Rechnern zu tun hat und für die Zukunft der Menschheit von entscheidender Wichtigkeit ist.Und die vielbeschworene Datenautobahn, was kann man sich darunter vorstellen? Wenn ich an eine deutsche Autobahn denke und dies auf Daten übertrage scheint mir dies ein ewig verstopfter Datenweg zu sein, immer kurz vor dem Kollaps.
Wer braucht das ?
Angeblich jeder. Doch wer sind die Kräfte, die uns dies weismachen wollen?
Will es die Unterhaltungselektronik-Industrie, die bei uns mit
Videorecordern und CDs gesättigten Bürgern einen Bedarf nach
neuen Elektronik-Spielzeugen wecken will, um sich so neue
Absatzmärkte zu schaffen?
Sind es die Medienkonzerne, die nun noch tiefer in unser aller Leben und
Denken eindringen wollen, indem sie uns noch länger vor den
Bildschirm ziehen wollen? Nicht mehr nur die Freizeit vor der Mattscheibe
verbringen, jetzt auch noch einkaufen, Termine erledigen und arbeiten vom
Sofa aus, und immer mit der nötigen Portion Werbung versorgt (es
existiert schon der Begriff vom Bürger als "ultimate couch
potato").
Oder sind es am Ende sogar die Politiker, wollen diese wirklich den
mündigen Bürger, der über den gläsernen Staatsmann
alles elektronisch erfahren kann, was ihm an Information zusteht, der den
Politiker jederzeit per E-Mail erreichen kann, um ihm die Meinung zu
sagen, die er als sein Repräsentant vertreten soll? Wer traut solch
eine Bürgernähe unseren Politikern zu ?
Oder wollen unsere Politiker etwa gar kein Medium, bei dem der
Bürger aktiv werden kann? Ihr Ziel könnte etwa auch der
Bürger als reiner Konsument sein, den es durch die moderne Variante
von "Brot und Spielen" ruhig zu stellen gilt, auf daß er in seiner
Politikverdrossenheit nicht auf all zu dumme Ideen kommt.
Was sind die Gefahren ?
Man mag sich jetzt fragen, wo bei solch praktischen Dingen wie "E-Mail für jeden" Gefahren verborgen sein mögen. Dazu sollte man sich aber nur mal vor Augen halten, wie einfach ein Bürger, der einmal auf elektronische Kommunikation angewiesen sein wird, weil sie zum Lebensstandard gehört wie heute das Telefon, zu überwachen ist. Dies beginnt jetzt schon bei der immer weiter fortschreitenden Digitalisierung des Telefonnetzes, wo die computerunterstützte Vermittlung ein Routen bestimmter Gespräche durch einen Abhörcomputer zum Kinderspiel macht, ganz im Gegensatz zur Kabelabsucherei bei analoger Vermittlung.Am Ende der Entwicklung könnte der durch und durch abhörfreundliche Bürger ohne Privatsphäre stehen, dessen elektronische Post automatisch nach Schlüsselwörtern durchschnüffelt wird, denn Texte in elektronischer Form lassen sich nun mal viel einfacher nach Begriffen absuchen als Berge von papiernen Briefen, wie es zur Zeit noch der Fall ist. Wer jetzt meint, ihn ginge das nichts an, denn schließlich "habe ich nichts zu verbergen", der möge sich einfach mal denken, seine privaten Telefongespräche und Briefe würden am nächsten Tag in der Zeitung für jedermann lesbar sein. Sicherlich keine angenehme Vorstellung, obwohl es doch angeblich "nichts zu verbergen gibt". Vielleicht wird sich mancher fragen, unter welch paranoiden Wahnvorstellungen ich leiden mag, daß ich hinter allem und jedem einen staatlichen Abhördienst vermute. Dazu sei gesagt: Abgehört wird jetzt schon, und nicht zu knapp. Es ist ein offenes Geheimnis, daß Gespräche, die z.B. nach Übersee führen, systematisch vom Bundesnachrichtendienst nach Schlüsselwörtern (welche werden das wohl sein - "Kokain", "Bombe", "Droge"?) durchsucht werden und bei deren Auftreten das Gespräch automatisch mitgeschnitten wird. Die größte Unverschämtheit dabei ist, daß die Abhörmaßnahme rechtlich gar nicht als solche betrachtet wird, denn von Gesetz wegen müßte der Abgehörte nach einer Abhörmaßnahme über den Lauschvorgang informiert werden (Und wer hat es schon nach einem USA-Telefonat erlebt, daß er einen Brief vom BND bekommen hat, indem ihm der Tonbandmitschnitt seines Gesprächs mitgeteilt worden ist?) Wie um dem ganzen die Krone aufzusetzen, gibt es zur Zeit auch noch Bestrebungen, Verschlüsselungsmaßnahmen, wie z.B. PGP, zu verbieten bzw. nur noch Verschlüsselungsalgorithmen zuzulassen, zu denen ein Generalschlüssel existiert, der sich in staatlicher Hand befinden soll. Spätestens hier sollte einem klar werden, daß die Angst vor dem Abgehörtwerden nicht unberechtigt scheint, denn nur wer abhört, kann sich an Verschlüsselung stören. Diese staatliche Abhörmaschinerie findet immer unter dem Deckmäntelchen des "Kampfes gegen das organisierte Verbrechen" statt, eine dumme Ausrede, die bereits durch die Tatsache entkräftet wird, daß sich bei der großen Anzahl an Überwachungen in Deutschland die Meldungen über aufgedeckte kriminelle Organisationen häufen und unser Staat somit bald komplett verbrecherfrei sein müßte.
Wen stört es ?
In Deutschland garantiert der Artikel 10 des Grundgesetzes das Post- und Fernmeldegeheimnis, doch droht dieser Artikel zur bloßen Phrase zu verkommen, sollte die Kommunikation des Bürgers, verstrickt im elektronischen Netz, für den Staat ein offenes Buch werden. Und genau darauf arbeitet die neue Fernemeldeüberwachungsverordnung hin, die Telefongesellschaften dazu zwingen soll, Gespräche quasi auf Knopfdruck für Abhördienste abrufbar zu machen (eine genaue Erklärung der Verordnung und ihrer Folgen würde den Rahmen dieses Eulenspiegels sprengen, Interessierte seien auf die c't 7/95, Seite 72ff verwiesen oder auch auf Gregors Artikel in diesem EULENSPIEGEL). Die Suche nach Kriminellen rechtfertigt es in meinen Augen nicht, die vom Grundgesetz garantierte Privatsphäre dermaßen aufzulösen und Massenüberwachungen des Bürgers zu veranstalten.Das Grundgesetz ist das höchste Gesetz in diesem Staate, um es zu schützen und zu respektieren, hat jeder Beamte einen Eid abzuleisten. Und nun sollen diese Beamten plötzlich querbeet Telefone überwachen dürfen, um Kriminelle zu entdecken? Der nächste logische Schritt kann dann nur noch sein, die anderen Artikel des Grundgesetzes ebenso nach und nach außer Kraft zu setzen und z.B. einfach mal Massenverhaftungen durchzuführen oder in ganzen Straßenzügen Hausdurchsuchungen zu veranstalten, einige Verbrecher werden sich sicher auch so finden lassen... Fachschaft math/inf