Eulenspiegel Nr.1 im Sommersemester 96

Hirntod und Menschenwürde

Jan Litsch

Revisionsdatum: Mai 1996

Historisch stammt das Hirntod-Konzept aus einer Zeit, als es darum ging, die Abschaltung lebensverlängernder Geräte zu rechtfertigen, wenn aufgrund irreversibler Schädigungen des Gehirns eine Besserung oder Heilung ausgeschlossen war. Manche Mediziner erkannten, daß es nur wenig mit Menschenwürde zu tun hat, nach dem Absterbendes Gehirns ohne Aussicht auf Heilung, Besserung oder Aufwachen regungslos an einen Automaten gefesselt im Koma zu liegen.

In einem ganz anderen Zusammenhang tauchte der Hirntod kürzlich im deutschen Bundestag auf: dort gab es eine Debatte über gesetzliche Regelungen zur Organspende. Beraten wurde über einen Antrag, den die Mehrheit der Fraktionen CDU, CSU, SPD und FDP unterstützte.

Ein zentraler Punkt der Debatte war die Todesdefinition. Organtransplantationen haben die größten Erfolgsaussichten, wenn die Organe aus einem lebenden Spender entnommen werden. Um dem möglichst nahe zu kommen, hatten sich die Parlamentarier in Expertenrunden (an denen aus irgendwelchen Gründen außer den Politikern nur Transplantationsmediziner teilnahmen) auf eine Todesdefinition festgelegt, die fordert, daß gewisse Hirnfunktionen irreversibel abgestorben sein müssen. Ein derartiger "Toter" kann zum Beispiel nicht mehr sprechen, sehen oder hören. Aber: sein Herz kann noch schlagen, sein Kreislauf kann noch intakt sein, er kann sich noch bewegen, Reflexe können noch funktionieren, er kann noch Schmerzen wahrnehmen (das Wort "empfinden" wurde nicht gebraucht), Hirnströme können noch meßbar vorhanden sein, ja er kann sogar (falls es sich um eine schwangere Frau handelt) noch Kinder gebären. Dieser "Tote" ist so tot, daß ihm nur unter Vollnarkose die zu spendenden Organe entnommen werden können !

Auch das Thema Menschenwürde wurde in dieser Debatte angesprochen. So sei es beispielsweise nicht nur mit der Menschenwür !..7de vereinbar, sondern geradezu eine moralische Pflicht des behandelnden Arztes, die Angehörigen vor die Alternative zu stellen, entweder die Zustimmung zur Organentnahme zu geben oder die lebenserhaltenden Geräte abzuschalten. Und falls gerade keine nahen oder fernen Angehörigen erreichbar sind, dann sollen auch andere Personen die Zustimmung zur Organentnahme geben dürfen.

Ich weiß, daß obige Zusammenfassung die diesbezüglichen Redebeiträge dieser Debatte sehr verkürzt wiedergibt, aber diesen Eindruck hinterließen etliche unserer gewählten Volksvertreter bei mir. Ein Lichtblick (aus meiner Sicht) soll jedoch nicht unerwähnt bleiben: Nicht alle Parlamentarier der oben genannten Fraktionen unterstützten diesen Antrag. Etwa 90 Abweichler (darunter ein Dr.med.) sind gegen den Gesetzentwurf der Mehrheiten ihrer Fraktionen, und sogar der neue Justizminister äußerte sich kritisch. Fachschaft math/inf