Eulenspiegel Nr.1 im Wintersemester 95/96
Das arme kleine Komma
Ralf Schwab
Revisionsdatum: September 1995
Es war einmal ein kleines Komma, das sein ganzes Leben lang in der Einleitung eines großen, düsteren Mathematikbuches lebte. Doch eines Tages hatte das Komma den langweiligen Text satt und wollte herausfinden, was es mit dem magischen Phänomen der Mathematik auf sich hatte, von dem in der Einleitung ständig berichtet wurde. So machte es sich auf den langen Weg ins Innere seines Reiches. Zeile um Zeile der Suche verging und nach wenigen Seiten traf es schließlich auf den ersten Bewohner des Reiches."Hallo Du. Mein Name ist Komma".
"Sei gegrüßt. Ich bin eine Null" antwortete die rundliche Gestalt.
"Ich bin auf der Suche nach dem Geheimnis der Mathematik. Kennst Du es vielleicht?"
"Tut mir leid, aber ich bin selbst auf der Suche. Ich hab meinen Kontext verloren. Hast Du vielleicht auf deinem Weg einen gesehen?"
"Oh. Nein", bedauerte das Komma, "ich hab viele Texte gesehen, aber keinen Kontext. Willst Du Dich vielleicht meiner Suche anschließen?"
Die einsame Null willigte ein und schloß sich dem Gänsemarsch des einzelnen Gänsefüßchens an. Und auch schon nach wenigen Zeilen trafen sie auf einen großen aber dürren Einwohner des Reiches.
"Hallo. Wir sind das Komma und die Null", stellte das Komma sich und seinen Begleiter vor.
"Mein Name ist Eins", antwortete der dürre Kerl. "Wißt Ihr vielleicht, wo ich hingehöre?"
"Nein", antwortete die Null. "Aber schließ Dich doch einfach uns an!"
Gesagt, getan setzten die drei ihren Weg auf der Suche nach dem Sinn der Existenz fort. Kaum Druckerschwärze verging, da trafen die drei auf eine Kreuzung.
"Hallo", sprach das Komma, "Wir sind die Null, die Eins und das Komma. Kennst Du den Sinn unserer Existenz."
"Darf ich mich vorstellen?", sprach das Kreuz, "Mein Name ist Additionsfunktion, aber Freunde nennen mich einfach Plus. Und ja, ich kann etwas mit Euch anfangen. Zumindest mit der Null und der Eins." Spontan griff sich das Plus den Dürren und den Runden, und verschlang sie. Weitere Nullen und Einsen sahen das und kamen ebenfalls, um sich von dem Plus erfüllen zu lassen. Und plötzlich geschah etwas Wundervolles. Das Plus erschuf aus den Nullen und Einsen neue Rassen von Bewohnern.
"Und ich?", fragte das Komma.
"Tut mir leid, aber mit einem Komma kann ich nichts anfangen. Aber vielleicht tröstet es Dich, wenn wir Dir etwas Gesellschaft leisten."
Und so machten sich die Zeichen gemeinsam auf den Weg ins Herz des Buches. Und wieder vergingen nur Tintenkleckse, bis sie auf den nächsten Weggefährten stießen.
"Hallo Ihr. Ich bin die Subtraktionsfunktion."
"Hast Du vielleicht Verwendung für ein Komma?", fragte selbiges vorsichtig. "So etwas Dummes aber auch. Wärst du ein Bindestrich gewesen, hätte ich dich als Minus benutzen können, aber so ..."
Mit herabhängendem Kopf setzte das Komma in Begleitung seiner Freunde den Weg fort. Im Laufe der Seiten begegneten sie noch anderen Gestalten. Manche von ihnen konnten einfach nichts mit dem Komma anfangen, andere, so wie der auf dem Kopf stehende Baum, der sich selbst als Wurzel vorgestellt hatte, wollten mit einem Komma nichts zu tun haben. Doch schließlich kam das arme kleine Komma seinem Ziel einen großen Buchstaben weiter, als es auf eine Gruppe anderer Kommata stieß.
"Hilf uns, Gleichgekommater", flehten die anderen Kommata. Dieser böse Bruch mißhandelt uns. Erst nimmt er uns freundlich auf, dann wächst er aber auf unsere Kosten. Und wenn er uns wegrationiert, bleiben wir hier obdachlos liegen."
Voller Bedauern, selbst nichts gegen den übermächtigen Bruchstrich unternehmen zu können, bot das Komma seinen gepeinigten, gebeugten Freunden an, sich seiner Suche anzuschließen. Und so setzten sie ihre lange Reise fort, bis sie plötzlich auf eine große Schlucht stießen. Eine breite Brücke gewährte einen sicheren Überweg und auf einem Schild stand annähernd etwas wie "Königreich der Numerik. Exakte Zahlen sind nicht willkommen!"
"Na also", dachte sich das Komma, wo es keine exakten Zahlen gibt, hat man doch sicherlich Verwendung für ein Komma. Und so konvergierte es in Richtung der Burg, die der Mittelpunkt des numerischen Reiches war.
"Was willst Du?" fragte der Grenzwert am Burgtor schroff.
"Ich bin ein Komma. Ich will mich nützlich machen."
"Sehr gut. Wir suchen gerade nach Kommata"
Das Komma war glücklich wie noch nie und nahm sofort seine ihm zugewiesene Stelle ein.
"Nein! Nein!", grölte das häßliche Monster, welches das Komma mit "notwendige Voraussetzung" anzusprechen hatte. "Weiter nach hinten".
Schwerfällig kämpfte sich das Komma tiefer in die Numerik hinein, in der Hoffnung, nun der Voraussetzung zu genügen.
"Nein! Nein! Noch weiter"
Unter größter Anstrengung gelang es dem Komma schließlich, doch noch tiefer in die Materie einzudringen, und es war richtig stolz darauf. "Was ich hier geleistet hab, das schafft nicht jedes Komma", dachte es insgeheim.
"Nein! Nein! Viel weiter"
Enttäuscht erschlaffte die Krümmung des Kommata. Dann sammelte es sich jedoch, trat der Voraussetzung gegenüber und sprach verachtend: "Du wirst es nie schaffen, Du Sklaventreiber!". Stillschweigend verließ es die enttäuschende Numerik und durchquerte noch weitere Königreiche, schrit über kurvenreiche Jordanwege und passierte viele Grenzen und Schranken, bis es schließlich an einen großen Wald gelangte. Traurig sah es, wie die einzelnen Bäume in Reih und Glied standen, manche ohne System, andere in einer wundervollen Diagonalformation. Jeder der Bäume hatte seinen festen Platz in dieser Welt, doch nur für das arme kleine Komma schien es keine Zukunft zu geben. Entmutigt spielte das Komma schon mit dem Gedanken, sich einer chirurgischen Geschlechtsumbiegung zu unterziehen und als geradegebogener Bindestrich die Suche fortzusetzen, als sich plötzlich der Himmel auftat und die höheren Mysterien ihr Mitleid mit dem Komma ausdrückten.
"Ich bin R", sprach eine tiefe, von Hall erfüllte Stimme zu dem kleinen, verängstigten Komma. "Wir, die R, haben beschlossen, dich in unser R-Kontinuum aufzunehmen." Dort sind Zeit und Raum irrelevant. Du kannst dir jeden deiner Wünsche erfüllen. Du kannst tun, was du schon immer tun wolltest und ... äh ... Moment ... falscher Film. Auf jeden Fall hatte die Geschichte ein gutes Ende für das Komma, und wenn es noch nicht ausradiert ist, dann steht es da noch heute. Und die Moral von der GeschichtŽ: Seid Ihr Erstsemester versteht Ihr sie noch nicht. NOCH nicht. Übrigens: wenn in unseren Eulenspiegeln gelegentlich Kommata fehlen sollten ... Fachschaft math/inf